Nachdem wir uns bereits mit dem Ursprung der Behauptung, Impfungen würden Autismus verursachen, und fragwürdiger Datenanalyse beschäftigt haben, wollen wir hier einmal näher auf das Schreckgespenst Autismus eingehen. Was sagt die Wissenschaft dazu? Was ist Autismus und wie entsteht er? Und kommt das Impfen als eine Ursache in Frage?
Autismus ist nicht nur eine Krankheit sondern ein Sammelbegriff verschiedener Syndrome, die unter der Bezeichnung „Autism spectrum disorder“ (ASD) zusammengefasst werden. Es handelt sich um Gehirnentwicklungsstörungen, die eine Vielzahl von Symptomen in sehr unterschiedlich starker Ausprägung hervorrufen können. Charakteristisch sind Störungen des Sozialverhaltens und der Kommunikation sowie stereotypische Verhaltensweisen (Wiederholen von Verhalten, Zwangsstörungen). Häufig kommen außerdem überhöhte Sensibilität gegenüber äußeren Reizen und kognitive Einschränkungen vor.
Autismus wird seit den 40er Jahren diagnostiziert, auch wenn die Symptomatik schon früher beschrieben wurde. Die Zahl der Autismus-Fälle ist in den Industrieländern in den letzten Dekaden geradezu sprunghaft angestiegen und heute ist etwa 1% der Kinder betroffen, wobei Jungen im Schnitt vier mal so häufig erkranken wie Mädchen.
Der Anstieg der Autismus-Zahlen ist zum Teil damit zu begründen, dass sich die Diagnostik verändert und verbessert hat. So werden heute Fälle erkannt, die früher noch einfach als geistige Behinderung behandelt wurden, und auch milde Fälle von Autismus werden registriert. Dennoch geht die Wissenschaft davon aus, dass es zu einem tatsächlichen Anstieg der Fallzahlen gekommen ist.
Als Gehirnentwicklungsstörung sind die Ursachen sehr früh in der Entwicklung zu suchen. Es gibt bei Autismus eine sehr starke genetische Komponente. Das heißt, die Krankheit oder das Erkrankungsrisiko können vererbt werden. Dies zeigt sich in einer Vielzahl von Studien. Derzeit lassen sich etwa (je nach Quelle) 10% bis 40% der Fälle allein genetisch erklären. Darüber hinaus gibt es über 1000 Gene, die mit dem Risiko, an Autismus zu erkranken, assoziiert sind. Häufig kommt es dabei zu einer de novo Mutation. Das bedeutet, dass das für die Krankheit ursächliche kaputte Gen nicht von den Eltern übertragen wurde, sondern im Kind durch spontane Mutation entstanden ist. Da die Symptomatik von Autismus sehr komplex ist, ist davon auszugehen, dass es hier auch zu einem Zusammenspiel mehrerer Gene kommt, deren negative Wirkung sich aufaddiert.
Starke Hinweise auf die Vererbbarkeit von Autismus stammen aus der Populationsgenetik, wo man Familien, Geschwister und vor allem Zwillinge untersucht. So fand man heraus, dass Geschwister und sogar Halbgeschwister von Erkrankten ein höheres Risiko für Autismus besitzen als der Rest der Bevölkerung (etwa 2 bis 3 mal so hoch). Die Wahrscheinlichkeit, dass beide eineiigen Zwillinge, die genetisch identisch sind, erkranken, liegt bei 70%. Außerdem wurden bei Geschwistern vermehrt Symptome und (vorübergehende) Störungen festgestellt, die denen des Autismus ähneln, sich aber nicht bis zur Krankheit manifestiert haben. Des Weiteren sind manche Autismus-Symptome auch bei anderen vererbbaren neurologischen Krankheiten zu finden und die Kandidaten-Gene, die man identifizieren konnte, überlappen sich.
Dass nicht immer beide eineiigen Zwillinge erkranken und dass es schwierig ist, die ursächlichen Gene zu identifizieren, deutet darauf hin, dass Vererbbarkeit nicht die einzige Ursache für Autismus ist. Viele Forscher beschäftigen sich deshalb mit der Frage, welche Umweltfaktoren hierbei eine Rolle spielen könnten. Dabei konnte Folgendes gefunden werden:
Mit zunehmendem Alter der Eltern (sowohl der Frau als auch des Mannes) erhöht sich das Risiko einer Autismus-Erkrankung des Kindes. Die Ursache könnte hier die erhöhte Wahrscheinlichkeit von Spontanmutationen in den Keimzellen sein. Außerdem können Erkrankungen der Mutter (Stoffwechselstörungen, Übergewicht, Diabetes, Mangelernährung, Immunerkrankungen, Infektionen und Fieber) oder die Einnahme bestimmter Medikamente während der Schwangerschaft (wie Antidepressiva und Beruhigungsmittel) das Autismus-Risiko des Kindes erhöhen.
Besorgniserregend sind die Befunde, dass sich das Erkrankungs-Risiko erhöht, wenn die Mutter während der Schwangerschaft Luftverschmutzung (Schwermetalle) oder verschiedenen Chemikalien wie Pestiziden, Polychlorierte Biphenylen (PCBs, als Weichmacher in Kunststoffen zu finden) oder Parfüms ausgesetzt ist. Dabei kann der Effekt entweder das Kind direkt treffen oder indirekt über z.B. einen immunotoxikologische Weg auf den Körper der Mutter wirken. Gerade Luftverschmutzung und PCBs kommen in den Industrienationen verstärkt vor und könnten die Beobachtung erklären, warum es gerade bei uns zu einer starken Zunahme an Autismus-Fällen gekommen ist. Viele Chemikalien sind bioakkumulativ (d.h. sie werden nicht abgebaut und reichern sich im Körper an) und kommen in unserer Nahrung vor. Bestandteile von Parfüms müssen nicht bekannt gegeben werden und häufig finden sich darin problematische Stoffe.
Grundsätzlich ist sich die Wissenschaft einig, dass die fehlerhafte Entwicklung des Gehirns bereits vor der Geburt einsetzt. Dafür sprechen nicht nur Vererbbarkeit, sondern auch dass für den Einfluss der oben genannten Umweltfaktoren teilweise kritische Perioden während der Schwangerschaft festgestellt wurden. Bestimmte Stoffe haben eine stark negative Wirkung wenn sie während einer wichtigen Phase der Gehirnentwicklung auftreten, sind zu anderen Zeiten aber weniger schädlich. Interessanterweise haben Studien eine mögliche Verbindung zwischen erhöhter Testosteron-Konzentration während der Entwicklung und dem Auftreten von Autismus festgestellt. Das würde sowohl den Geschlechterunterschied (mehr Jungen als Mädchen betroffen) erklären, als auch eine Hypothese für den Einfluss von hormonell wirksamen Stoffen wie PCBs und Parfüm-Bestandteilen liefern.
Und kommen Impfungen nun als Ursache in Frage?
Wenn die Fehler in der Entwicklung des Gehirns bereits im Mutterleib, also lange vor den Impfungen, passieren, ist ein Einfluss von Impfungen sehr sehr unwahrscheinlich. Forscher konnten bisher noch keinen Zusammenhang feststellen. Die Symptome von Autismus sind erst ab bestimmten Phasen der Entwicklung des Kindes erkennbar. Der Mangel an Augenkontakt kann erst festgestellt werden, wenn Babys in der Lage sind Augenkontakt herzustellen und Dinge zu fixieren. Die Defizite in der Sprachentwicklung können erst erkannt werden, wenn Kinder anfangen zu sprechen. Eine sichere Diagnose ist deshalb erst nach 18 bis 24 Monaten möglich. Das deckt sich mit den Zeitpunkten einiger Impfungen (z.B. Mumps-Masern-Röteln nach 18 Monaten), wodurch es den betroffenen Eltern so vorkommen kann, als wäre die Impfung ursächlich für die Erkrankung. Aluminium, das in manchen Impfungen enthalten ist, steht zwar in dringendem Verdacht bei hoher Dosis eine neurotoxische Wirkung zu haben (Risikofaktor für Alzheimer), eine Verbindung zum Autismus konnte aber nicht gefunden werden.
Nein, da bei Autismus die Entwicklung des Gehirns schon lange vor den ersten Impfungen gestört ist, kommen Impfungen als Ursache wohl nicht in Frage.
Vielmehr hat der Mensch durch die Verunreinigung der Umwelt durch eine Vielzahl an Chemikalien dafür gesorgt, dass werdende Mütter und ihre ungeborenen Kinder großen Risikofaktoren ausgesetzt sind, die die Wahrscheinlichkeit dieser Erkrankung in den Industrienationen zusätzlich zur genetischen Vererbbarkeit stark erhöht haben.
Quellen:
- Szatmari, P et al. (2016). Prospective Longitudinal Studies of Infant Siblings of Children with Autism: Lessons Learned and Future Directions. Journal of the American Academy of Child and Adolescent Psychiatry 55(3), 179–187
- Sealey, LA et al. (2016). Environmental factors in the development of autism spectrum disorders. Environment International 88, 288–298
- Matelski, L & Van de Water, J (2016). Risk factors in autism: Thinking outside the brain. Journal of Autoimmunity 67, 1–7
- Schaefer, GB (2016). Clinical genetic aspects of ASD spectrum disorders. International Journal of Molecular Sciences 17(2)
- Yoo, H (2015). Genetics of Autism Spectrum Disorder: Current Status and Possible Clinical Applications. Experimental Neurobiology 24(4), 257–72